theatercompagnie Tagträumer
Die
Midaqgasse
Szenen aus dem Roman von Nagib Machfus
Regie Veronika
Brendel
mit Rolf Birkholz, Uta Eckhardt, Armin Hauser, Gudrun Schnitzer
Onkel
Kamil, der Bonbonverkäufer. Salim Alwan, der Chef einer Handelsfirma, der
sich an aphrodisierenden Speisen labt. Meister Kirscha, der Kaffeehausbesitzer
mit Kragen und Krawatte, ein Sklave des Haschisch und voll schwuler Lust. Der
alte Dichter, den keiner mehr hören will, seit es das Radio gibt. Ja sogar
der düstere Zita, der aus Menschen Krüppel macht, damit sie besser
betteln können. Sie alle spüren die neue Zeit, deren Rhythmus die
Stadt erobert; jeder sucht seinen eigenen Weg in die Zukunft.
So auch Hamida, die hinter schwarz vergitterten
Fenster ihr Haar kämmt, während Abbas al-Hilu, der blasse Friseur,
in seinem Salon nach ihr schmachtet. Um Hamida, Chronistin aller Nachrichten
und wandelndes Lexikon aller Missetaten, hat täglich mehr zu erzählen
über die Geheimnisse dieser Gasse.
Nagib
Machfus wurde am 11. Dezember 1911 in Kairo geboren. Er hat seine Geburtsstadt
nur sehr selten verlassen. Nach seinen eigenen Aussagen spielen fast alle seine
Werke im Raum seiner persönlichen Erfahrungen, also in Kairo.
In Die Midaqgasse ist es, wie schon aus dem Titel hervorgeht, die Gasse, die
Ägypten in nuce verkörpert, eine Sackgasse mit nur einer Öffnung
nach außen.
Machfus studierte Philosophie und war Beamter;
mehrfach bekleidete er Stellen im staatlichen Filmwesen. Viele seine Romane
dienten als Drehbuchvorlagen, filmartige Szenen und Filmtechniken wie der flashback
sind zahlreich in seinem Werk. Der Film war es auch, der ihn in der breiten
Bevölkerung bekannt und beliebt machte.
Im Jahr 1988 erhielt er als erster arabischer
Autor den Literaturnobelpreis. Seitdem wird er von religiösen Fundamentalisten
kritisiert und verfolgt, obwohl er immer wieder betonte, daß er sich gleichermaßen
der ägyptischen und der islamischen Kultur verpflichtet fühle. Der
Preis wurde als Beweis seiner antiislamischen Haltung interpretiert. In Folge
zog man ihn auch noch in den Streit um Salman Rushdies Satanischen Verse hinein.
Man forderte seine Zwangsscheidung. 1994 verübte man auf offener Straße
ein Attentat auf den 82jährigen Schriftsteller, das er glücklicherweise
ohne Gefahr für sein Leben überstand.
Im
Sommer 1994 wurden wir zum Festival für experimentelles Theater nach Kairo
eingeladen. Dort entstand die Idee, den Roman «Die Midaqgasse» von
Naguib Mahfouz zu dramatisieren. Seit geraumer Zeit wollten wir das Thema «Fremdheit»
im Theater behandeln. Das Gefühl, als Europäer verloren in dieser
orientalischen Metropole zu verweilen, war für uns ein spannender Einstieg.
Wir besuchten die Basare, lasen in Kaffeehäusern
Mahfouz' Buch, und fanden in der Altstadt viele Gassen, in denen der Roman spielen
könnte. Nach langem Suchen entdeckten wir sogar den «Originalschauplatz»:
Bewohner zeigten uns den verlassenen Friseurladen von Abbas und das Fenster,
hinter dem Hamida ihr Haar gekämmt hatte, damals, in den Vierzigern, einer
Zeit des Umbruchs. Der Krieg, die Engländer. Das alte Straßenschild
wird für den Fototermin herausgeholt.
Wir trafen Naguib Mahfouz und sprachen mit ihm
über «Die Midaqgasse». Unser Interesse an einem ägyptischen
Schriftsteller hatte zur Folge, daß die Öffentlichkeit umgekehrt
auf uns aufmerksam wurde, und wir in Folge in Kairo viel Unterstützung
bei der Verwirklichung des Projekts erhielten.
Im Sommer 1995 nahmen die Tagträumer erneut
am Theaterfestival in Kairo teil. Wir nutzten die Chance, um das Film-, Foto-und
Tonmaterial für das Projekt zu erweitern. Unter anderem filmten wir das
Treiben in einer Gasse aus einer einzigen Kameraeinstellung von Sonnenauf- bis
-untergang.
Nach Deutschland zurückgekehrt erfolgte die
Dramatisierung, die seitdem viele Male als «szenische Lesung» gezeigt
wurde. Für die erweiterte Fassung, ein «Multimediaprojekt»,
fanden wir im Museum Judengasse einen idealen Ort. Die Mauer- und Säulenreste
geben die verwinkelte Räumlichkeit der Midaqgasse auf gleiche Weise abstrakt
wieder, wie die schwarzen Anzüge, durch die die vier Schauspieler in mehr
als ein Dutzend Rollen schlüpfen.
Das Museum Judengasse ist ein Ort konservierter
jüdischer Geschichte in Frankfurt. Ihn durch die Texte eines arabischen
Autors mit Theater zu beleben, mag bei manchem Betrachter Befremden auslösen.